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Verlangt einsortiert

Ein Nachklapp zur LitCologne 2010

Im Rahmen der im März stattgefundenen 10. LitCologne gab es unter dem Titel „Verlangt eingesandt” erstmalig eine Aktion des Westdeutschem Rundfunks und des Kölner Stadt-Anzeigers, die Schreibende, die bisher noch keinen Text veröffentlichen konnten, dazu aufrief, ihre Werke einzusenden. 748 Hobbyautoren und Freizeitlyriker folgten diesem Aufruf, und zwölf Teilnehmer wurden schließlich eingeladen, ihre Beiträge an vier aufeinanderfolgenden Abenden auf der LitCologne vorzutragen; darunter wider Erwarten auch der Verfasser dieser Zeilen, der sich zu seinem eigenen Beitrag an dieser Stelle selbstverständlich nicht äußert. Dafür aber sollen hier einige Anmerkungen zu den übrigen elf Beiträgen folgen. Nicht chronologisch, nicht alphabetisch, sondern vom Bericht zur Erzählung, vom Autobiografischen zum Erfundenen, vom Faktischen zum Fiktionalen. Die Werke von „Freizeitautoren” werden, anders als die der „professionellen Autoren”, für gewöhnlich weder besprochen noch diskutiert. Ihre Texte sind meist ursprünglicher, lassen sich seltener einem klassischen Genre zuordnen und reflektieren oft persönliche, teils sehr private Erlebnisse – aber das muss ja nicht unbedingt ein Nachteil sein.

Das gilt in jedem Fall für den Beitrag von Clara Fischer aus Windeck. In knappen Sätzen und unprätentiöser Sprache beschreibt sie ihre Arbeit in einem Sterbehospiz und verarbeitet dabei ihre Erfahrungen bei dieser psychisch stark belastenden Tätigkeit. Ihre innere Anteilnahme spiegelt sich in der Genauigkeit ihrer Beobachtungen, deren besondere Wirkung sich durch Kontraste entfaltet, wenn beispielsweise hinfälligen Patienten wie zufällig dastehende Fotos gegenübergestellt werden, die sie noch bei bester Gesundheit zeigen. Die nüchterne Schilderung des physischen und geistigen Verfalls der Patienten dient ebenso wie die Darstellung mitfühlender Momente, wie das Gespräch mit einer dementen Frau, bei dem sich die Erzählerin auf deren verwirrte Gedankenwelt einlässt, oder mit einem paralytischen Weltkriegsveteranen, mit dem sie seine Erinnerungen an seine Jugend teilt, dazu, nie aus dem Blick zu verlieren, dass es sich nicht um „Fälle”, sondern immer um Menschen handelt.

Auch bei Rita Dörper-Link aus Neunkirchen lässt der Text vermuten, dass er persönliche Erlebnisse beschreibt, wenn er auch ganz anders, nämlich humoristisch daherkommt. Damit erinnert er in seiner Machart an amerikanische Vorbilder à la Erma Bombeck, wie man sie beispielsweise aus „Reader's Digest” kennt. Hier wie dort werden die Nöte einer Hausfrau mit ihrem heimwerkenden Ehemann geschildert, dessen Findigkeit sich besonders beim Vermeiden jeder heimwerkerischen Tätigkeit zeigt. Die genervte Ehefrau muss mehr Energie aufwenden als ihr Mann, bis er, nach fünf Monaten guten Zuredens, eine gebrochene hölzerne Treppenstufe repariert, wozu er ganze sieben Minuten benötigt. Nicht die einzige Differenz zwischen Aufwand und Ergebnis, die dabei für die komische Wirkung sorgt.

In einer E-Mail-Korrespondenz tauschen sich Marion Schuckart aus Wahrenholz und Sigrid Bonkowski aus Bonn über „Zuhausesein” und „Verreisen” aus. Während die eine ihren Wohnsitz innerhalb Deutschlands wechselt, von Schleswig-Holstein ins östliche Niedersachsen und dies als ihre beiden „Heimaten” bezeichnet, beschreibt die andere ihre Eindrücke von einer oder mehreren Reisen nach Australien und Neuseeland. Reisereportage kontrastiert mit Daheimgebliebenenbericht, beides in Tagebuchform. Und so bleibt die Reisereportage konsequent im Präsens und beschreibt lebhaft Aktionen und Impressionen der Touristen im fernen Land, während die Daheimgebliebene gedanklich in das ferne Land ihrer Kindheit zurückkehrt und darüber reflektiert, was davon sie in die Gegenwart hinüberretten kann – und ob sie wirklich Freunde von früher wiedersehen möchte, um festzustellen, wie sehr sie sich verändert haben – oder schlimmer: dass sie immer noch die alten sind.

Eine der jüngsten Teilnehmerinnen, Julia Tomaschowski aus Erkrath, präsentiert ebenfalls einen Tagebucheintrag, der in einer Art Bewusstseinsstrom Gegenwart und Vergangenheit reflektiert. Von der Beschreibung eines Gemütszustands zwischen Traum und Trance geht es über Gedanken an die Vergangenheit, an Eltern und Großeltern und deren Eingebundensein in ein Leben, das sich zu erstarrten Ritualen entwickelt hat, bis zur Frage nach der eigenen Situation, der eigenen Befindlichkeit. Ein Resümee gibt es am Ende nicht. Es bleibt ein undefinierbares Gefühl von Leere, ungreifbar zwischen Glück und Trauer, und schließlich Beschämung über das eigene Klagen, denn „eigentlich sollte ich glücklich sein.”
Der Text erinnert an einen Besinnungsaufsatz, der rein persönliche Eindrücke mit allgemeinen Aussagen und Glaubenssätzen vermischt, und zuweilen erscheint die Sprache ein wenig umständlich. Was jedoch für die Erzählerin einnimmt, ist ihr Wille zur unbedingten Ehrlichkeit zu sich selbst und anderen.

Auch Klaus Blümel aus Leverkusen erzählt eine Geschichte aus der Vergangenheit, allerdings aus einer, die wesentlich weiter zurückliegt. Der Text des mittlerweile 80-jährigen führt zurück in die 50er Jahre, in ein Stasi-Gefängnis der damaligen DDR und schildert eindringlich seine Zeit in einer Einzelzelle, nur eine der Stationen seiner Haft in den Jahren 1952 bis '56. Als Bericht eines Zeitzeugen, nach jahrzehntelanger Verdrängung aufgezeichnet, um die Erinnerung an das Geschehene an Kinder, Enkel und Nachgeborene weiterzugeben, spielt die Frage nach der literarischen Ausgestaltung darum nur eine untergeordnete Rolle. Wie sehr das Gefühl des Gefangenseins das Leben des Verfassers durchdringt, wird durch den mehrfachen Bezug auf Rilkes Gedicht „Der Panther” deutlich, in dem das „Vorübergehn der Stäbe” als Leitmotiv etabliert wird. Geschichten wie diese, wie sie kein nach 1945 in Westdeutschland Geborener aus eigenem Erleben erzählen kann, haben allerdings einen schweren Stand gegen inhaltlich ähnliche Geschichten von Verfolgten des Dritten Reiches, die – berechtigt oder unberechtigt – historisch schwerer wiegen. In Vergessenheit geraten dürfen beide nicht.

Kein Katzen-, sondern ein Kängurusprung ist es nun zu Rainer Tietz aus Rösrath, dessen Beitrag, ein Prosatext und drei Gedichte, eingängig und leicht konsumierbar daherkommt. Der Prosatext ist eine Kindergeschichte, die zeigt, was passiert, wenn Eltern in Gegenwart ihrer zweijährigen Tochter einer Fliege einen Namen geben: Plötzlich scheint diese Fliege überall zu sein und wird erst zum Haustier und schließlich zum Familienmitglied. Die Gedichte, lang und launig gereimt, erinnern an Wilhelm Busch, was sowohl ein Vorteil als auch ein Nachteil ist: ein Vorteil, weil sie witzig und treffend sind, ein Nachteil, weil sie auch aus der Zeit Wilhelm Buschs stammen könnten. Was sie thematisieren, ob Frauenlogik, Gästebücher oder Anzugkäufe, hätte schon vor fünfzig oder hundert Jahren so beschrieben werden können. Man möchte den Autor ermuntern, auch die enervierenden Errungenschaften des modernen Lebens wie Notebook und Handy, Ölpest und Schweinegrippe in ähnlicher Weise aufzuspießen – und vielleicht auf eine erklärende „Moral von der Geschicht'” zu verzichten, die lediglich das bereits Gesagte wiederholt.

Simon Wilkens aus Köln hingegen thematisiert gerade die moderne Welt in einem Prosatext und drei Gedichten, wobei auch der Prosatext eigentlich ein Gedicht ist. Sperrig und mäandernd präsentiert er sich, voll kühner Metaphern, teils wie eine philosophische Abhandlung, teils wie ein Bibeltext oder gar eine Predigt, wobei alltags- und umgangssprachliche Einsprengsel besonders ins Auge fallen und konkrete Orts- und Straßennamen in all dem Abstrakten wie Fremdkörper wirken. Den Stil könnte man als salbungsvoll bezeichnen; die Aufschrei-Rethorik eines Wolfgang Borchert scheint Pate zu stehen. Inhaltlich kreisen die Gedanken des Autors um das Fehlen des Spirituellen in einer allzu materiellen Welt. So wird eines der Hauptmotive, die Ernährung, umgedeutet vom rein physischen zum geistigen Prozess: Nicht nur der Körper braucht Nahrung, sondern ebenso die Seele.

Ina Elbracht, gleichfalls aus Köln, erzählt eine Episode aus dem Leben der Frau K., ein Auszug aus einem Roman, womit der Schritt vom autobiografischen zum fiktionalen Schreiben getan ist. Ein quasi über dem Geschehen schwebender Erzähler zeigt Frau K. beim Zwiebelschneiden in ihrer Küche und enthüllt ihre Gedanken, wie etwa, ihre Hand in den Topf mit kochendem Wasser zu stecken oder statt in die Zwiebel in ihren Daumen zu schneiden und weist dabei darauf hin, dass die amerikanische Dichterin Sylvia Plath (1932-1963 [Selbstmord]) dies schon in einem ihrer Gedichte erwähnt habe – wovon Frau K. allerdings gar nichts wisse. Diese Herstellung von eigentlich gar nicht vorhandenen Zusammenhängen soll nicht nur als humoriger Gag dienen, sondern eine Brücke in die Gedankenwelt der Hausfrau schlagen, die sich nach einer Veränderung in ihrem eintönigen Leben sehnt. Sie will das Leben spüren, und sei es auch nur durch Verletzung und Schmerz – was sie schließlich veranlasst, sich die Kuppe ihres Daumens fast ganz abzuschneiden und sich fasziniert beim Bluten zuzuschauen. Es muss ja nicht immer gleich Selbstmord sein. Und, liebe Kinder: Bitte nicht zu Hause nachmachen...!

Auch Inger Maleen Bachmann aus Hamburg stellt einen Auszug aus einem Roman vor. Erzählt wird eine Geschichte aus der Sicht eines sechsjährigen Mädchens, das regelmäßig vor den Streitereien seiner Eltern ins Treppenhaus flüchtet und dort einen zehn Jahre älteren Jungen trifft, der zu ihrem Freund und Beschützer wird. Die Spache der beiden Jugendlichen ist adäquat getroffen, auch der rückblickend aus der Erwachsenenperspektive erzählende Text nimmt an den Stellen wieder eine kindliche Ausdrucksweise an, in denen es um die Gedanken und Empfindungen der Sechsjährigen geht. Irgendeine enge Verbindung muss sich zwischen beiden entwickelt haben, denn zwanzig Jahre nach dieser ersten Begegnung im Treppenhaus sucht die mittlerweile Erwachsene ihren alten Freund wieder auf, weil sie sich von ihm Beistand in einer Krisensituation erhofft, und man ahnt, dass es eine tiefgreifende Krise sein muss.

Can Mayaoglu aus Münster präsentiert ebenfalls einen Auszug aus einer längeren Erzählung, in dem eine Studentin, offenbar eine Angehörige der weit verbreiteten „Generation Praktikum”, über ihr Leben nachdenkt. Die Abschlussprüfungen stehen vor der Tür, und die Angst macht sich breit, nun in ein Leben voller Abhängigkeiten, Pflichten und trotz aller Qualifikation unterfordernder und schlecht bezahlter Jobs entlassen zu werden. Auf eine Art vorgezogener Midlife Crisis spielen auch die melancholischen Musiktitel an, von denen sie sich morgens wecken lässt, von der Ahnung begleitet, dass sie ihr Studium nicht oder nicht genügend auf das reale Leben, sprich Berufsleben, vorbereitet hat. Was das Stilistische angeht, so finden sich eine Reihe originell gedrechselter und treffender Formulierungen. Viele Sätze geraten allerdings etwas lang und verschachtelt, auch in der wörtlichen Rede, die dadurch sehr unnatürlich klingt. Der Autor scheint sich von der eigenen Formulierungslust fortreißen zu lassen, und so werden die Sätze mitunter komplizierter, als es zu ihrem Verständnis nötig wäre.

Wahnsinnig, ja mörderisch literarisch geht es zu bei Alexander Popowitsch aus Berlin. Der Autor weiß mit der Sprache umzugehen und lässt eine Folge treffender Metaphern und schöner Formulierungen auf den Leser einprasseln, nur ab und zu gibt es auch hier Ausrutscher ins allzu vertraut Umgangssprachliche. Die langen, eine Atmosphäre von Gewalt heraufbeschwörenden Sätze bilden förmlich das Gegenstück zum Text von Clara Fischer mit seinen knappen Sätzen, die scharf die Realität abbilden. Popowitschs Erzählung erinnert an den Monolog von Peter Lorres Kindermörder in Fritz Langs „M” (1931), denn seine Hauptfigur – ein einäugiger Mann – erscheint als Leidender, als Kranker, als Süchtiger, vielleicht sogar als Triebtäter. Mal scheint er sich vor der Welt, mal vor sich selbst zu ekeln und folgert schließlich daraus, dass sich die Welt auch vor ihm ekeln müsse. Was wir nicht erfahren, ist die Ursache für diese Empfindungen, das Geschehen, dass den Mann veranlasst hat, so zu werden, wie er ist. Aber vielleicht ist das ja gerade die Frage, die der Text stellen will.

Soweit die bescheidenen Versuche des ungeübten Rezensenten. Wer sich nun selbst eine Meinung über die hier angesprochenen Texte bilden möchte, kann das tun unter:

http://litcolony.de/wohnzimmer/kolumne/458
(Diese Seite wurde leider inzwischen eingestellt) 

Jörg Wartschinski

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